Schulfreiräume und Gender: Empfehlungen
Sensibilisierung für Beteiligung und einen differenzierten Blick auf Mädchen und Buben
Erziehung zur Gleichstellung ist bereits ein in der Schule verbindlich umzusetzendes Unterrichtsprinzip. Dennoch zeigt die Studie, dass Zugangsmöglichkeiten zu und Nutzung von schulischen Freiräumen stark geschlechtertypisch sind.
Ein erster Schritt liegt daher in der Sensibilisierung von Lehrkräften, aufgeschlossen für Unausgewogenheiten zu sein und zu realisieren, wo Veränderungsmöglichkeiten liegen.
Reflexion der eigenen Meinungen und Wertungen
In vielen Interviews äußern sich Lehrkräfte und zum Teil auch Schüler/innen sehr abschätzig über die Aktivitäten der Mädchen. Es besteht durchaus die Gefahr, aufgrund der Überbetonung des Fußballgeschehens als dominierende Bewegungs- und Sportaktivität auf dem Pausenhof die Vielfalt und Breite der Mädchenaktivitäten zu übersehen und diese möglicherweise auch geringer zu bewerten oder einzuschätzen. Gerade die weitläufigen Geh- und Flanieraktivitäten der Mädchen bedürften da durchaus auch einer näheren Betrachtung. Rasches Gehen wird in der sportwissenschaftlichen Literatur als durchaus positiv bewertet – in einem bestimmten Tempo und über eine bestimmte Strecke hat es durchaus gesundheitsförderliche Wirkungen. In Kombination mit dem bei Mädchen üblichen Kommunikationsverhalten kann das „Rundengehen“ als Ort des Austausches gesehen werden, wo in immer wieder wechselnden Gruppen soziale Netze geknüpft und gefestigt werden und durchaus auch so etwas wie Mädchenidentifikation und Demonstration von Gemeinsamkeit und Stärke herausgebildet werden können. Vor allem in den Nutzungskarten der Hauptschulen und der Gymnasien sind diese Flaniermeilen sehr stark ausgeprägt.
Gleichzeitig darf bei all den Analysen nicht übersehen werden, dass Mädchen insgesamt einer größeren Breite an Aktivitäten nachgehen und im Vergleich zur Gesamtzahl der Buben dies zu einem größeren Prozentsatz tun.
Die Diskussion darüber, ob es Sinn macht, derartige traditionelle Muster aufzubrechen und ggf. durch gezielte „Mädchenarbeit“ oder Förderansätze anzubieten, ist aktuell. Neuere Mädchenarbeit setzt nunmehr weniger am Expert(inn)enwissen der Pädagog(inn)en als vielmehr an den konkreten Mädcheninteressen und deren Sichtweisen an. Sehen Lehrpersonen beispielsweise die Interessen der Mädchen nicht, wo Mädchen beklagen, dass sie nur deswegen „herumspazieren“, weil es ohnedies kein Angebot für sie gibt, so stellt sich die Frage nach unterstützenden Betreuungsmöglichkeiten oder einer Kritik an der einseitigen Befriedigung von Schüler(innen)interessen, nämlich vornehmlich jener der Buben. Denn auch Zinnecker konstatiert, dass eine „geschlechterfreie“ Erziehung durch formale Gleichberechtigung und Ignorieren des Geschlechts im pädagogischen Geschehen nicht ohne Weiteres funktioniert und sich eine Geschlechterhierarchie häufig subtil durchsetzt, weil z.B. gleiches Verhalten von Mädchen und Jungen unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird (Faulstich-Wieland, Weber & Willems, 2004, S. 216).
„Buben haben ein größeres Bewegungsbedürfnis, die brauchen das“ – doppelte Bewertungsmaßstäbe
Geschlechterstereotype und (vielfach unbewusst) einseitige Blickweisen zeigen sich auch in einzelnen Interviews. In einem kritisiert eine Lehrerin, dass Mädchen unfair seien, weil sie manchmal jüngere nicht mitspielen lassen, im gleichen Interview fordert sie, „dass Buben ungestört den Fußballplatz benutzen können sollten, weil sie das brauchen“. Was sie für die Buben als wichtiges Bedürfnis und Recht einfordert mit dem Argument „Buben haben ein größeres Bewegungsbedürfnis“, findet sie bei Mädchen ungerecht und fällt ihr dort als „unfair“ auf. Daraus wird ersichtlich, dass bei Mädchen andere Maßstäbe und Erwartungen angelegt werden (Fairness, Miteinander, …), durch die Mädchen langfristig für andere Verhaltensweisen sozialisiert werden und durch subtile Bestärkungs- und Sanktionsprozesse auch aus Räumen und Bewegungshandlungen zurückgehalten werden oder sich selbst zurückziehen.
Damit diese Handlungspotenziale, die in ähnlicher Weise für Innen- und Außenräume gelten, auch im Schulalltag wirksam werden können, braucht es Verantwortungsträger/innen, die sich der Bedeutung des Einflusses von Schulräumen bewusst sind, als Role-Models „geschlechtersensibel“ agieren und unterrichten, die Schulräume mit den Schüler/innen gestalten und gemeinsam verschiedene Möglichkeiten der Nutzung diskursiv aushandeln und erarbeiten. Gerade durch die Einbindung der Interessen von Mädchen und Buben in geschlechtergerechte Gestaltungs- und Nutzungsprozesse von Schulräumen entwickeln sich Schulen zu Orten und Modellen geschlechtergerechten Lernens.
Alternative Pausengestaltungen und sportpädagogische Verantwortung
Neue Sportarten mit Bewegungsanforderungen, die Mädchen und Buben gleichermaßen Chancen zur Profilierung geben, würden sich für alternative Nutzungskonzepte für die Pausenhofgestaltung durchaus anbieten, wie z.B. die Skatingentwicklung im Freizeitbereich. Das Angebot einer breiten Palette an Bewegungs- und Sportmöglichkeiten, die möglicherweise keine allzu große Geschlechterkonnotierung haben, stellt eine Chance für beiderlei Geschlecht dar, sich in der Pause damit auseinanderzusetzen. Alternative Nutzungskonzepte für die Pausenhofnutzung ohne das weitgehend dominierende Fußballspiel und mit für Mädchen und Buben gleichermaßen bereichernden Bewegungsangeboten müssten wahrscheinlich nicht nur entwickelt werden, sondern würden auch Betreuung benötigen. In jedem Fall bräuchte es für beide Geschlechter attraktive Alternativen. Die Modelle zur Bewegten Pause, zur Bewegten Schule oder zum Bewegten Schulhof weisen durchaus in die richtige Richtung, indem dabei besonders auf ein vielfältiges Angebot Bedacht genommen wird.
Schulhofnutzung als Anlassbeispiel zur Auseinandersetzung mit Genderthemen
Die Pausenhofnutzung als „unverfängliches“ Anlassbeispiel zu nehmen, um Lehrpersonen für die verschiedenen Dimensionen der Geschlechterthematik zu sensibilisieren, hat sich ebenfalls als sehr ertragreich erwiesen. Gerade die Analyse der je eigenen Schulhofsituation sowie die Diskussion um Nutzungskarten, die in vielen Fällen eher genderstereotype Nutzungsmuster zu Tage bringen, provozieren eine Auseinandersetzung mit der Genderthematik und die Arbeit an geeigneten Rahmenbedingungen zur Ermöglichung gleicher Zugangs- und Nutzungschancen für Mädchen und Buben. Dies wäre durchaus auch im Rahmen sogenannter pädagogischer Konferenzen oder Projektschwerpunkten an Schulen umsetzbar und hätte Auswirkungen auf Lehrkörper und Schüler/innen.
Beispielhafte Themen wären die Fragen nach der Wahrnehmung der Situation am Schulhof, nach den Erklärungsansätzen und nach der Reflexion der dahinterliegenden Grundannahmen über Geschlechterverhältnisse und gesellschaftliche Normen, die ihrerseits wiederum den Blick auf geänderte Gestaltungs- und Nutzungsmöglichkeiten beeinflussen und schärfen würden.
Denn, wie auch Faulstich-Wieland, Weber und Willems (2004, S. 223) hervorheben, vermuten Lehrpersonen, die meinen „gender-free“ zu agieren und keine Unterschiede in der Behandlung von Mädchen und Buben zu machen, die Ursachen für Geschlechterunterschiede eher in Familie und Gesellschaft allgemein als in Interaktionen, an denen sie selbst aktiv beteiligt sind. Fehlende Selbstreflexion läuft Gefahr, zur „blinden“ Reproduzierung „normaler“ Geschlechterbilder beizutragen. Es soll aber auch nicht vorenthalten werden, dass auch eine Überbetonung oder „Dramatisierung“ von Geschlechterdifferenzen oft den Blick auf die Wahrnehmung der Unterschiede innerhalb der Gendergruppen verstellen kann und in Folge bei Schüler(inne)n ein doing gender indirekt aufzwingen kann. Gerade für diese Balance von Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht und ihre Umsetzung in schulische Alltags- und Interaktionssituationen erfordert von Lehrkräften neben der Selbstreflexion des eigenen doing gender auch Genderkompetenzen.
Planung und Gestaltung von Schulfreiräumen
Die Nutzungsmöglichkeiten von Schulfreiräumen stehen auch mit den physisch-räumlichen Voraussetzungen in Zusammenhang. Daher ist es wichtig, bei Neuplanungen und Umbauten von Schulen gut nutzbare Schulfreiräume vorzusehen.
Die Mitbestimmung der Schüler/innen bei Umgestaltungen und bei der laufenden Nutzung des Schulfreiraumes ist wichtig, um Angebote setzen zu können, die für die jeweilige Schule und ihre Schüler/innen passen. Die Ergebnisse der Untersuchung weisen darauf hin, dass Mitbestimmungsstrukturen wie Schüler/innen/parlamente, die eine regelmäßige Mitsprache der Kinder und Jugendlichen zu Fragen des Schulalltages ermöglichen, ein wichtiges Angebot für die Nutzbarkeit und Veränderbarkeit von Schulfreiräumen darstellen.
„Wir gehen eh nur spazieren, sonst gibt´s ja nix!“ – Unterschiedliche Raumangebote vorsehen
Die Ergebnisse zeigen auch, dass ein großer Schulfreiraum nicht automatisch ein gutes Angebot für alle Schüler/innen/gruppen bedeutet. Wichtig ist neben Nutzungsvereinbarungen vor allem eine gute Anordnung unterschiedlicher Freiräume, die Platz und Angebote für verschiedene Gruppen bieten.
Eine differenzierte Raumanordnung, wie sie auch in der Literatur mehrfach gefordert wird, mit einem Wechsel von offenen Bereichen und vielseitigen, gegliederten Bereichen ermöglicht unterschiedliche Bewegung und die Wahlmöglichkeit, im Zentrum zu sein oder sich zurückzuziehen.
Die Raumanordnung gewinnt mit zunehmendem Alter der Schüler/innen an Bedeutung. Schlechte Angebote werden in Hauptschulen und Gymnasien von Schüler/innen kaum mehr angenommen und nur mehr von wenigen Schülern vorrangig zum Fußballspielen genutzt. Eine differenzierte Raumanordnung unterstützt sowohl Buben, die im Konkurrenzkampf um wenige Ballspielflächen unterliegen, als auch viele Mädchen mit breiter gefächerten Interessen.
Spielgeräte erweitern die Nutzungsmöglichkeiten von Schulfreiräumen. Sie bieten Angebote für Bewegung, Spiele und Ausblick. In Hauptschulen und Gymnasien mit Spielgeräten werden diese auch von 10- bis 14-jährigen Mädchen und Buben gut angenommen. Werden neue Spielgeräte aufgestellt, sollten solche bevorzugt werden, die keine Engstellen aufweisen und von vielen gleichzeitig nutzbar sind. Dadurch wird das Spielen neben- und miteinander weniger konfliktträchtig. Beispiele für solche Geräte sind Kletternetze oder Nestschaukeln. Reckanlagen stellten sich im Rahmen der Untersuchung als für Mädchen zentral heraus: Sie bieten vielseitige Bewegungsmöglichkeiten, sind Treffpunkte und Aussichtsplätze für Schülerinnen.
Mobiles Spielmaterial wie Schnüre, Softbälle oder Bewegungsbaustellen erweitern die Bewegungs- und Spielmöglichkeiten von Schulräumen wesentlich. Pausenkisten, wie sie in mehreren untersuchten Volksschulen verwendet werden, wären auch ein für Schüler/innen der Hauptschulen und Gymnasien wichtiges Angebot.
Befestigte Flächen sind wichtige Angebote in allen Schulfreiräumen. Sie können Orte mit keiner fixen Bestimmung, wie z. B. ein Schulvorplatz, sein oder einer bestimmten Nutzung vorbehalten werden, wie ein Volleyball-, Basketball oder Fußballplatz.
Befestigte, nutzungsoffene Bereiche werden in vielen der untersuchten Schulen sehr vielseitig angenommen. Sie bilden einerseits zusätzliche Ballspielflächen, andererseits sind befestigte Bereiche wichtig für unterschiedliche Spiele wie z. B. Hüpfspiele, Laufspiele oder Spiele und Bewegung mit Seilen, einer Aktivität, der im Rahmen unserer Beobachtungen insbesondere Mädchen nachgehen.
Gibt es Sportanlagen wie Hartplätze oder Laufbahnen, können diese die Nutzungs- und Bewegungsmöglichkeiten eines Schulfreiraumes wesentlich erhöhen, wenn die Schüler/innen sie in den Pausen nutzen dürfen.
Bei der Planung und Gestaltung von Schulfreiräumen ist es wichtig, Fachleute wie Landschaftsplaner/innen beizuziehen, die eine Planung für den jeweiligen Schulfreiraum ausarbeiten. Das gewährleistet auch, dass bestehende Normen zu Geräten und Sporteinrichtungen eingehalten werden, sodass mehr Nutzungsmöglichkeiten für Schüler/innen und keine zusätzlichen Erschwernisse bei der Pausenaufsicht entstehen.
Insgesamt scheint der Druck auf vorhandene Schulfreiräume insgesamt sehr hoch zu sein. Dass es dabei zu Diskussionen kommt, scheint unerlässlich zu sein. Staffelungen von Pausenzeiten, wie sie in Volksschulen umgesetzt werden, um diesen Druck einigermaßen zu minimieren, sind jedoch an flexiblere Stundenstrukturen gebunden, die sich in Hauptschulen und Gymnasien nicht wirklich umsetzen lassen.